Das Bernsteinzimmer
„So könne wir das aber nicht lassen. Hier sieht es ja aus wie in einer Rumpelkammer!“, sagte ich entschieden und zeigte aus den großen, unordentlichen Bücherberg, der sich auf dem Fußboden der Raucherecke türmte. Bis vor wenigen Minuten hatten die Bücher noch mehr oder weniger ordentlich im Regal gestanden. Es war eine kleine Mischung aus Unterhaltungsliteratur, die den Nachtschülern in ihren Pausen zur Verfügung stand. Doch dann hatten ein Stollentroll und ein Schweinsbarbar (deren Namen ich hier nicht petzen will) irgendwelchen Quatsch gemacht und alle Bücher durcheinandergeworfen.
Ich mochte es gar nicht, wenn Bücher so behandelt wurden und machte mich sofort ans Aufräumen.
Die Raucherecke war inzwischen fast leer. Die Luft war verbraucht und über meinem Kopf drehte sich träge der Ventilator, an den jemand aus mir unerfindlichen Gründen eine Bierflasche gehängt hatte.
Die meisten Nachtschüler waren schon gegangen, nur die schlechte Idee U03 und die Wolpertinger Quas und Sushi lümmelten auf dem Sofa, kicherten und alberten mit einer Schüssel Schokopudding herum. Ich mochte die drei gerne, hatte aber nicht den Mut, mich einfach dazuzusetzen.
Seufzend hob ich das nächste Buch auf, ein sehr schönes Exemplar eines Prinzessin-Silbermilch-Romans. Ich strich über den hübschen, pastellfarbenem Einband, der die Prinzessin zeigte, die auf einem weißen Einhorn in das Abendrot ritt. Man sah dem Buch an, dass es schon oft gelesen worden war. Zwischen die Seiten hatte eine meiner Mitschülerinnen einen Zettel als Lesezeichen geklemmt, der mit einem sehnsuchtsvollen Liebesgedicht für einen Zwergpiraten bekritzelt war. Ich stellte Prinzessin Silbermilch in das Regal zurück und wollte gerade das nächste Buch aufheben, einen Klassiker von Hildegunst von Mythenmetz, als es plötzlich an der Tür klopfte.
Verwundert schaute ich auf. Eigentlich klopfte nie jemand an die Rauchereckentür, meine Mitschüler kamen immer einfach so herein. Nur die ganz neuen Schüler, Ersties wie ich, waren noch schüchtern und fragten manchmal, ob sie hereinkommen dürften.
Hilfsbereit wie immer sprang die kleine Quas auf (die Schnauze braun von Schokolade und Flecken im Fell) und öffnete die Tür.
Draußen stand zu meiner großen Verwunderung eine eindrucksvolle Lindwurm-Dame. Man sah, dass sie keine neue Schülerin war, denn sie schien sehr betagt zu sein. Ihre Schuppen begannen bereits, ihre Farbe zu verlieren und sie sah müde und gebrechlich aus.
Nachdem Quas sie hereingebeten hatte, setzte sie sich dankbar auf das abgewetzte Sofa, das unter ihrem Gewicht ächzte, und lächelte uns mit großen, sehr weißen Zähnen an (später sollte ich erfahren, dass dies nicht ihre natürlichen Zähne waren, sondern die bei älteren Lindwürmern üblichen „achten Zähne“, denn Lindwürmer haben i.d.R. nur sieben natürliche Zahnwechsel. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht).
Der Lindwurm schaute sich im Raum um, blickte missbilligend auf den Bücherhaufen, auf meine schokoladenverschmierten Mitschülerinnen und sah anschließend mich an.
„Mein Name ist Bernadotta von Schmökerhoff“, sagte sie mit tiefer Stimme. „Ich wüsste gerne, wo ich hier gelandet bin.“
Sushi reichte ihr höflich die Pfote, nannte unsere Namen und erklärte der Echse, dass sie sich in der Nachtschule von Professor Dr. Abdul Nachtigaller befand.
Ich muss zugeben, ich schämte mich ein wenig für die Unordnung. Was für einen Eindruck mochte die alte Dame von dieser Schule bekommen?
Bernadotte von Schmökerhoff schien jedoch ganz andere Sorgen zu haben, denn statt uns für die Unordnung zu tadeln, bat sie uns zunächst um ein Getränk.
Während die emsige U03 ein Glas aus dem Schrank holte, es mit dem Zipfel der Tischdecke ein wenig nachpolierte und dann vor den Lindwurm auf den Tisch stellte, öffnete ich den Kühlschrank und schaute nach einem passenden Getränk für unseren Gast.
Das hätte ich mal lieber nicht tun sollen, denn da quollen mir neben vielen unangenehmen Gerüchen auch ein halb verzehrtes Brathähnchen, eine Lebkuchenpizza, zwei leere Sardinenbüchsen, ein offener Blaubeerjoghurt (auf dem eine botanisch interessante Sammlung von Schimmelpilzen wucherte) sowie ein Camembert (der sich schon auf den Weg gemacht hatte, seine Schachtel zu verlassen) entgegen.
Immerhin befanden sich in der Tür auch ein paar Flaschen. Prüfend nahm ich sie nacheinander heraus und besah mir den Inhalt. Die erste war halbvoll mit Rhumm, daneben standen zwei leere Bierflaschen. In der dritten strampelte ein Leidener Männlein in seiner Nährflüssigkeit. Hastig stellte ich die Flasche zurück.
Die letzte Flasche sah vernünftig aus. Vorsichtig entkorkte ich die hellrote Flüssigkeit und schnupperte. Sie roch nach Himbeerlikör.
Ich füllte das Glas und sah fasziniert zu, wie unser Gast das süße Zeug in kleinen Schlucken schlürfte und sich die letzten klebrigen Tropfen von den rot geschminkten Lippen leckte.
Auf diese Weise erfrischt, begann der Lindwurm zu erzählen. Quas, U03 und Sushi kuschelten sich derweil auf dem gegenüberstehenden Sessel zusammen (ich setzte mich auf die Lehne) und wir lauschten gebannt Bernadottas Geschichte.
„Vor 965 Jahren“, begann sie, „baute mein Onkel Berno von Schmökerhoff nahe der Spitze der Lindwurmfeste ein prächtiges Haus. Mein Onkel war sehr wohlhabend. Zwar war er zeitlebens kein großer Dichter, aber er war geschäftstüchtig und häufte als Verleger große Reichtümer an. Darüber hinaus hatte er geerbt.
Mein Onkel hatte einen exquisiten Geschmack und gestaltete sein Haus überaus prächtig. Er ließ die Möbel vergolden, hatte Edelstein-Mosaike auf den Fußböden und lebensgroße Elfenbeinskulpturen aus Florinth.
Das Schönste, was er besaß, war jedoch sein Bernsteinzimmer. Dieser Bernstein war fossiles Harz von einer vor Millionen von Jahren ausgestorbenen Nurnenbaumart und sein Wert übertraf bei Weitem den Wert von Gold oder Diamanten. Nirgendwo sonst in ganz Zamonien gab es eine derart große Nurnenbernsteinsammlung. Ihr könnt euch sicherlich ausmalen, dass mein Onkel sein Bernsteinzimmer wie seinen Augapfel bewachte.“
An dieser Stelle schob der Lindwurm das Glas zu U03 hinüber, die einen großen Schwups Likör nachschenkte. Bernadotta schlürfte, in Gedanken weit fort, und sprach dann weiter:
„Mit der Zeit wurde mein Onkel kauzig und ein wenig sonderlich. Mit jedem Jahr machte er sich mehr Sorgen um die Sicherheit seines Bernsteinzimmers. Vor etwa 735 Jahren befand er dann, dass das Bernsteinzimmer in seinem Haus nicht mehr sicher genug war und er ließ die aus dem wertvollen Harz gefertigten Möbel und Wandverkleidungen abbauen und an einem sicheren Ort einlagern.“
Bernadotta stellte das Glas auf den Tisch, setzte sich kerzengerade auf und zeigte mit ihrer Pranke auf uns vier.
„Ich hoffe, dass ihr ein Geheimnis bewahren könnt“, sagte sie warnend. „Und ich hoffe darauf, dass ihr mir helfen könnt.“
Wir nickten andächtig mit den Köpfen (bzw. ich neigte zustimmend mein Auge) und warteten gespannt darauf, wie Bernadottas Geschichte weitergehen würde.
„Vor fünf Jahren verstarb mein Onkel Berno“, sagte sie ohne eine Spur von Trauer in ihrer Stimme.
„Da ich seine einzige Erbin bin, suche ich seitdem nach dem verschollenen Bernsteinzimmer. Meine jahrelangen Ermittlungen haben mich nun hierher geführt, mitten in die Finsterberge hinein. Seit Tagen irre ich hier nun schon durch die Gänge. Zweimal hat mich ein Stollentroll in die Irre geführt, ich bin fast verdurstet und zu Tode erschöpft. Ich bin sehr erleichtert, dass ich diese Räumlichkeiten nun endlich gefunden habe. Mein Informant hat mir nämlich versichert, dass die Stollen, die mein Oheim damals als Lager gemietet hatte, inzwischen der Nachtschule von Professor Nachtigaller als Räumlichkeiten dienen. Das Bernsteinzimmer muss also hier irgendwo liegen.“
Ich kann euch sagen, diese Neuigkeit haute uns fast vom Sessel. Hier, in der Nachtschule, sollte das sagenumwobene Bernsteinzimmer liegen? Verwirrt schaute ich die anderen an. Wo, um Himmelswillen, konnte hier ein Bernsteinzimmer versteckt sein? Vielleicht sollten wir einen der „älteren Semester“ fragen? Wie sich herausstellte, war das nicht nötig, denn U03, die mit allen befreundet war, kannte sich aus und hatte eine (gute) Idee:
„Es gibt hier tatsächlich eine Tür, die ich noch nie offen gesehen habe“, meinte sie nachdenklich. „Ich habe schon ein paarmal daran gerüttelt, aber sie ist verschlossen.“
„Ja, das stimmt!“ bestätigte Quas begeistert und sprang vom Sessel. „Los, gehen wir nachschauen!“
Auch in die alte Dame kam Bewegung, schnaufend erhob sie sich vom Sofa und folgte uns in das Stollenlabyrinth der Nachtschule.
Kaum waren wir auf den Flur hinausgetreten, standen wir auch schon knöcheltief im Wasser.
„Mist!“, motzte ich.
„Zio!“, rief U03 erfreut, und richtig, gerade kam die Tratschwelle Silenzio um die Ecke geschwappt. Sie begrüßte uns Mitschüler mit einer feuchten Umarmung. Das Licht der Flur-Quallenlampen spiegelten sich auf ihrer Oberfläche, als sie sich neugierig um die Pranken des Lindwurms kräuselte.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte Silenzio und schaute Bernadotta von Schmökerhoff neugierig an.
U03, die vor Aufregung hell-violett leuchtete, stellte der Tratschwelle den Dino vor und erzählte kurz von unserer Suche nach dem Bernsteinzimmer-Versteck. Bernadotta musterte die Welle mit einem säuerlichen Lächeln und wrang sich das Spritzwasser aus dem Mantel.
„Ich hätte es eilig, können wir dann mal weiter?“, sagte sie spitz.
Die Wolpis nickten und Silenzio folgte uns plätschernd, als wir durch die Gänge eilten. In einem entlegenen Stollen hielt die Schlechte Idee vor einer großen, schweren Eisentür an.
„Hier ist es“, sagte sie.
Sofort drängelte der Lindwurm sich unsanft nach vorne und rüttelte an der Tür.
„Sie ist verschlossen“, sagte Bernadotta enttäuscht und versuchte, durch das Schlüsselloch zu schauen.
„Es ist dunkel, ich kann nichts erkennen“, meinte sie.
Jetzt meldete ich mich schüchtern zu Wort:
„Darf ich es mal versuchen? Mein Auge kann so hell leuchten wie eine Nachtischlampe. Vielleicht kann ich ja etwas sehen!“
„Jaja, versuch es!“, rief U03 eifrig, und so stellte ich mich auf die Zehenspitzen und schaute in das Schlüsselloch hinein. Schnell senkte ich das Auge.
„Nein, es geht nicht“, meinte ich zerknirscht. „Ich kann nicht hindurchschauen, von innen steckt ein Schlüssel.“
„Dann ist es ja gut, dass ihr mich habt“, wisperte Silenzio, und ehe wir so recht wussten was geschah, wurde die Tratschwelle dünn und fein wie eine Nebelschwade und zwängte sich durch den engen Spalt unter der Tür hindurch.
Etwas später hörten wir sie auf der anderen Seite der Tür fluchen und ächzen, doch dann wurde ein Schlüssel mit rostigem Quietschen im Schloss herumgedreht.
Ungeduldig öffnete der Lindwurm die Tür, fast wäre er auf die arme Silenzio getreten, die spritzend zur Seite rollte. Hinter Bernadotta her tapsten auch wir anderen vier in das finstere Gewölbe.
Das erste, was mir auffiel, war ein penetranter, unangenehmer Geruch, der in der abgestandenen Luft lag. Sushi, der (wie ich vermute) in ihrer Jugend schon einmal auf einem fhernhachischem Bauernhof gewesen war, schnüffelte und sagte: „Das riecht nach Katzenklo.“
Ich machte vorsichtig einen Schritt nach vorn und tastete mit dem Leuchtkegel meines Buchlingauges die Wände und den Boden der Höhle ab. U03, die leise violett fluoreszierte, und ich waren die einzigen Lichtquellen in der Schwärze.
An der Höhlenwand entdeckte ich zunächst einige ausgetrocknete, erloschene Quallenlampen, in denen die verendeten Quallen wie runde Pergamentblättchen an den gläsernen Lampenwänden klebten. Ein grausiger Anblick!
Unvermittelt wurde ich ziemlich grob angepackt und hochgehoben. Der Lindwurm hatte die Geduld verloren und mich einfach unter seine Echsenachsel geklemmt.
„He, ich bin doch keine Taschenlampe!“, wollte ich ausrufen, aber was ich in diesem Moment im Lichtschein meines Auges sah, ließ mich verstummen:
Mitten im Raum, an einem Schreibtisch, der unter der Last von unzähligen Büchern, Zeitungen und Manuskripten zusammenzubrechen drohte, saß ein Buchling in der Dunkelheit. Neben ihm stand ein merkwürdiger Apparat, auf dem ein seltsames, katzengroßes Tier thronte. Der Rest der Höhle war mit Sperrmüll vollgestopft: Dort standen kaputte, verstaubte Möbel, Kisten und Bretter und verschwammen mit der Finsternis.
Ich zappelte und Bernadotta setzte mich wieder auf den Boden. Langsam ging ich auf den Schreibtisch zu und starrte auf den Artgenossen. Noch nie hatte ich einen solchen Buchling gesehen! Er musste uralt sein, fast versteinert. Seine Haut sah runzelig und wund aus. Große, graue Hautschuppen lösten sich und rieselten unappetitlich um den Alten herum zu Boden. Am meisten aber erschreckte mich sein Auge. Es leuchtete nicht, es war fast stumpf. Ein Gespinst von roten Äderchen ließ es gruselig wirken, außerdem war es von einem weißen Schleier getrübt. Der Alte schnüffelte und drehte das Auge in meine Richtung.
Ich atmete wieder, hatte wohl vorher vor Schreck die Luft angehalten, und war nun erleichtert zu sehen, dass der Buchling überhaupt noch lebte.
„Gute Nacht, darf ich mich vorstellen, ich bin Buchling Kubah Libri“, stellte ich mich mit zittriger Stimme vor und kam noch einen Schritt näher (hinter mir drängelten sich neugierig meine Mitschüler und der Lindwurm, der hektisch schnaufte).
Der Alte versuchte, mich mit seinem fast blinden Buchlingauge zu erfassen, zitterte leicht (wobei weitere Hautschuppen von ihm abfielen) und begann zu sprechen. Seine Stimme war alt, brüchig und knarrte wie schlecht gefettetes Leder.
„Saphostokles Smeik“, schnarrte er.
Ich fühlte die kleine, warme U03, die sich an meine Seite schmiegte.
„Eine Haifischmade!“, quietschte sie ängstlich.
„Aber nein“, raunte ich beruhigend zurück. „Es ist nur ein Buchling. Wir Buchlinge tragen, wie du doch bestimmt weißt, den Namen eines Schriftstellers. Seiner war wohl eine Haifischmade.“
„Und deiner war ein Mixgetränk“, lästerte Silenzio leise von hinten, aber ich versuchte, ihre Bemerkung zu überhören. Es war eine ganz andere Geschichte, wie ich zu meinem Namen gekommen war. Eine, die mir durchaus etwas peinlich war, doch die konnte ich in diesem Moment schlecht erzählen.
„Angenehm“, sagte ich stattdessen zu Saphostokles Smeik.
Das merkwürdige Tier, das auf der Apparatur gehockt hatte, sprang nun mit einem großen Satz auf den Schreibtisch. Ich erschrak. Noch nie hatte ich so ein Wesen gesehen. Es war über alle Maßen hässlich, mit einem gedrungenen Kopf, großen Schneidezähnen, einem Stummelschwanz und rostbraunem, räudigem Fell. Ich bemerkte, dass die Wolpis beim Anblick des Tieres vorsichtshalber auf Abstand gingen. Silenzio, die keine Angst vor Fellräude hatte, schwappte interessiert näher an das Wesen heran, und und da sie in der Nachtschule fleißig gelernt hatte, konnte sie uns die Erklärung aus „Rhembs Zoologischem Almanach“ zitieren.
„Das ist ein Murmelhutz“, erklärte sie. Murmelhutze sind sehr pelzige Nager, die entfernt mit den Klippschliefern verwand sind. Sie leben im Hutzengebirge und ernähren sich von Roströhrlingen.“
Naja, sehr pelzig war dieser Murmelhutz offen gesagt nicht. Sein Fell war an einigen Stellen kahl, fast wie abrasiert. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je etwas annähernd Hässliches gesehen zu haben.
Während wir Nachtschüler auf den Murmelhutz starrten, der mit seinem kurzen Schwanz über die Papierstabel peitschte, dass der Staub in dicken Wolken durch den Raum waberte, war Bernadotta schon aus ihrer Staunstarre erwacht. Sie stürmte auf den Buchling zu und griff sich ärgerlich einen Klumpen, der unscheinbar zwischen den Manuskripten gelegen hatte.
Wir guckten neugierig. Im Licht meines Buchlingauges schimmerte der unförmige Klumpen in einem warmen, durchscheinenden Goldton. Unförmig? Nein, wenn man genauer hinschaute, dass sah das Ding aus wie die Miniatur eines Dinosauriers, der seinen Kopf verloren hatte. Dort, wo der Echsenhals aufhörte, war das Ding rund und glänzte wie poliert.
„DAS“, brüllte Bernadotta und hielt Saphostokles das Ding vor das Auge, „DAS IST NURNENBERNSTEIN! WO IST DER REST VOM BERNSTEINZIMMER?“
Der Buchling hustete nervös, wobei ein gelblicher Schleimtropfen auf das vor ihm liegende Buch fiel.
„ANTWORTE!“, befahl der Lindwurm.
„Nun, ja, also, d da das ist alles, wwwas noch davon übrig ist“, stotterte Saphostokles.
Ich fühlte, dass Bernadotta mich wieder packte, aber da ich selbst auch neugierig war, seufzte ich nur und ließ mich erneut als Taschenlampe benutzen.
Mit einem Arm hielt der Lindwurm mich fest umklammert (ich würde sicherlich blaue Flecken bekommen), mit der anderen Hand wühlte sie sich erst vorsichtig, dann immer hektischer, durch die Sperrmüllhalde.
Es gab keinen Zweifel: Die Möbel waren aus nichts anderem als aus Holz. Aus gutem Holz zwar, aber eben doch nur aus Holz. Leere Fächer ließen vermuten, dass sie einstmals von kostbaren Intarsien geschmückt gewesen waren, aber nun waren sie dunkel und stumpf.
Bernadotta ließ mich fallen und griff sich den alten Buchling. Der Murmelhutz fauchte.
„Was hast du mit dem Bernstein gemacht?“ brüllte der Lindwurm böse und ließ Saphostokles ein gutes Stück über dem Boden hilflos baumeln.
Der greise Buchling begann zu wimmern und zu weinen. Dicke Tränen quollen aus seinem trüben Auge und schleimige Fäden troffen von seinem Mund.
„Nun lass ihn schon los, es geht ihm nicht gut!“, rief ich mutig, denn der Alte tat mir leid.
Der Drache schnaubte und setzte den Buchling auf die Schreibtischkante. Der Murmelhutz schmiegte sich schnurrend an seine Seite.
„Ach, es ist alles so schrecklich“, stöhnte Saphostokles und streichelte den häßlichen Kopf des Tieres.
„Ich höre“, entgegnete der Lindwurm mit eiskalter, schneidender Stimme und bleckte die Zähne.
„Ich habe es einfach nicht geschafft, die Werke meines Schriftstellers zu lernen“, seufzte er schamvoll. „Ein Buchling kann sich leider seinen Autor nicht aussuchen. Meiner war eben die Haifischmade Saphostokles Smeik. Ein ganz widerlicher Journalist, der nicht nur über 800 Jahre alt geworden ist (fast so alt wie ich selbst) sondern auch noch pausenlos geschrieben hat. Und zwar Bücher der übelsten Sorte: Schlechte Biographien, Lästerliteratur, Pamphlete. Ach, er ist mir so zuwider!“
Ich nickte verständnisvoll. Ich selbst hatte auch nicht eben viel Glück gehabt, was meinen Schriftsteller betrifft.
„Die meiste Zeit hat Saphostokles Smeik aber für den Atlantik-Kurier geschrieben“, fuhr der Buchling müde fort. „Täglich mehrere Artikel, Glossare, Rezensionen. Durch seine giftige Feder sind Kriege angezettelt worden, wurden Könige entthront und ehrliche Wissenschaftler in den Ruin getrieben.“
„Komm zum Punkt!“, unterbrach Bernadotta. „Was hat das alles mit meinem Bernsteinzimmer zu tun?“
„Tja, also“, druckste Sophostokles herum. „Also, die wollten in den Katakomben von Buchhaim diese ganzen Schmähschriften nicht stehen haben. Ich kann es verstehen, man bekommt Sodbrennen davon. Also musste ich ausziehen und bin hier gelandet. Ich habe mich so angestrengt, seit Hunderten vom Jahren! Aber ich komme einfach nicht dagegen an, ich habe es bis zum heutigen Tage nicht geschafft, dies alles zu lernen.“ Hilflos zeigte er auf die Bücher und Pergamentberge.
Das war ja unerhört! Mein Mitleid wuchs ins Unermessliche. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was für ein schreckliches Leben das sein musste, so einsam und allein, und vor allem ohne ein einziges gutes Buch. Der arme Kerl musste fast verhungert sein!
Bernadotta tappte unterdessen mit der Pranke auf den Boden und der Buchling fuhr hastig fort:
„Dann verlor ich zuerst die Quallenlampen, weil ich keine Nährflüssigkeit mehr hatte, und zu meinem großen Unglück wurde vor etwa 200 Jahren mein Auge so schlecht, dass ich ohne Licht nicht mehr lesen konnte.“
Saphostokles zwinkerte angestrengt.
„Also habe ich diesen Apparat erfunden, mit dem ich eklektisches Licht erzeugen kann“, fuhr er nicht ohne Stolz fort. „Dafür brauchte ich den Nurnenbernstein. Wusstet ihr, dass man Bernstein auch als „Elektron“ bezeichnet? Ich erzeuge eklektische Energie, wenn ich mit Fell darüber reibe.“
Um uns die Art seiner Lichterzeugung zu demonstrieren, schnappte er sich die Skulptur aus den Händen der verdatterten Bernadotta, ergriff mit knotiger Hand den Murmelhutz und rieb den Bernsteinklumpen am Fell des Tieres. Gleichzeitig begann flimmernd eine Lampe zu leuchten.
Wir Nachtschüler staunten. Das war ja vielleicht eine Erfindung! Kontraproduktiv zwar zu den Forschungen unseres Professors, aber eigentlich doch ganz nützlich.
„Das einzige Problem dabei ist, dass das Material so weich ist“, sagte Sophostokles bedauernd. „Ich meine, nicht nur das Fell, sondern auch der Bernstein. Ich habe ihn einfach Stück für Stück aufgerieben, Und nun ist er weg. Dies hier ist das allerletzte Stück...“
Der Lindwurm brüllte ohrenbetäubend. Wütend entriss er dem greisen Buchling den traurigen Rest der Dinosaurierskulptur und stampfte aus der Höhle, aus dem Stollen und auf Nimmerwiedersehen aus unserem Leben.
Am nächsten Tag begleitete eine kleine, bunte Gruppe von Nachtschülern einen sehr alten Buchling zur Aussichtsplattform der Nachtschule. Güni, die hilfsbereite Rettungssaurierin, hatte sich bereit erklärt, Saphostokles bis an den Eingang der Buchhaimer Katakomben zu fliegen. Dort würde er hoffentlich ein beschauliches und nettes Altenteil bei unseren Artgenossen bekommen. Der Murmelhutz blieb dagegen bei uns. Ich war zuversichtlich, dass wir uns an den Anblick würden gewöhnen können und der Hausmeister hatte nichts dagegen, dass wir zukünftig ein Haustier hielten. Ich hatte sogar den Eindruck, dass er jedes Mal ganz sentimental wurde, wenn er das hässliche Viech sah, vielleicht bekam er Heimweh davon...
Bevor Saphostokles uns verließ, nahm ich ihn kurz zur Seite und flüsterte ihm etwas zu, so von Buchling zu Buchling:
„Ich erzähle es niemandem, dass du nicht alle Schriften auswendig kennst“, sagte ich verschwörerisch. „Da sowieso niemand diese Schriften leiden kann, wird niemand dich je darum bitten, sie vorzutragen. Genieße den Ruhestand und lasse es dir gutgehen.“
Vorsichtig bestieg der alte Buchling den Rücken des Rettungssauriers und wir winkten ihm nach, bis er als kleiner Punkt am Horizont verschwand.
Über Bernadottas aufgeriebenes Bernsteinzimmer lachen wir uns noch heute schlapp.